Sag niemals nie

Der leicht konsumierbare Straßenroman „A Tree grows in Brooklyn“ von Pulitzer-Preisträgerin Betty Smith gehört zur Pflichtlektüre für Schulkinder im New Yorker Stadtteil Brooklyn. Wer in dem bunten Stadtviertel jenseits des East River lebt, fährt nur gelegentlich nach Manhattan und hat sich ansonsten auf seinem Kiez zwischen gemütlichen Läden, trendigen Restaurants und stets gut gefüllten 7/11 Stores eingerichtet. Hier ist New York ganz anders – Wolkenkratzer gibt es nicht. Seit einigen Jahren gesellen sich zu den eingefleischten Brooklynern gerne auch Langzeitbesucher aus der Musik-, Film- und Kunstszene. Speziell das Quartier Williamsburg als Nukleus kreativer Kunstproduktion lockt Künstler aus aller Welt an.

Im Sommer 2005 war auch die Münchnerin Charlotte Eschenlohr mitten im Geschehen. Unweit der brodeligen Bedford Avenue, zwischen Galerien und Lofts bespielte sie ein Atelier auf Zeit mitten in Williamsburg. In dieser Zeit entstand der Werkzyklus „New York Paintings“ – farbintensive, expressiv-gestische Acrylgemälde, die das Fieber, die Kulisse und die Menschen der Stadt New York in ihrer ganzen Dynamik einfangen. „Margarita and the pink Cadillac“ ist ein Porträt aus dieser Serie und zeigt eine fröhliche, selbstbewusste junge Frau mit witzigem Tank Top und zwei frechen schwarzen, Pipi-Langstrumpf-Zöpfen. Hinter ihr steht ein wuchtiger „Pink Cadillac“, ein filmreifes Gefährt, das angeblich einmal Fats Domino gehörte. Charlotte Eschenlohr stieß auf den legendären Wagen in ihrer Atelier-Loft-Gemeinschaft und positionierte die gut gelaunte Margarita kurzerhand davor. Auto und Protagonistin stehen stellvertretend für ein ganzes Viertel, für die Stadt New York und eigentlich für das Selbstverständnis einer ganzen Nation. Eine aufgeklärte, selbstbestimmte Frau mit ethnischem Hintergrund und ein individuelles Auto voller Nostalgie, Formschönheit und Geschichte. Dem dynamisch-kraftvollen Gemälde liegt die Montage zweier Fotos zu Grunde. Der reale, situative Hintergrund bildet die Folie für ein Thema, das die Malerei von Charlotte Eschenlohr wie ein roter Faden durchzieht: Das Bild von der freien, selbstbewussten Frau.

Ein wichtiger Aspekt in meiner Malerei ist das Frauenbild“, sagt sie, die sich im Laufe ihres Lebens eine unabhängige Position erobert hat. „Was mich interessiert, ist die freie Frau. “Während in den Achtziger Jahren Malerinnen wie Elvira Bach auffällige Frauengestalten erfanden oder Katharina Sieverding auf ihren großen Fototableaus ihr eigenes Gesicht immer wieder abbildete, erforscht Charlotte Eschenlohr anhand von wechselnden männlichen und weiblichen Modellen die Persönlichkeit des Individuums. Sei es der verschlossen und steinern wirkende Richard, die verspielt-erotische Emily in New York oder die androgyn-rotzig wirkende Hanna in Salzburg, die ein sperriges und letztlich auch verletzliches Bild abgibt.

Das „Self-portrait in a cab“ zeigt die Künstlerin auf dem Rücksitz eines gelben Taxis auf der Fahrt durch das abendliche New York. Eine Frau allein auf ihrem Weg durch den Großstadtdschungel, vielleicht auf dem Heimweg von einer Party oder unterwegs zu einem glamourösen Abendessen. Der Pinselstrich ist ruhig, die Farbpalette warm und zurückhaltend. Das Bild fängt einen Moment des Innehaltens ein, eine gespannte Erwartung oder eine erschöpfte Pause in der sicheren Kapsel des bequemen Wagens, hinter sich die Lichter der Megacity, vor sich ein mit Neugier erwarteter Ereignisreigen.

Doch die Münchner Künstlerin interessiert sich nicht nur für die Protagonisten der Stadt, sondern auch für Orte, die den Reiz New Yorks sowohl für Erstbesucher als auch für Einheimische ausmachen: Ein feierndes Paar im legendären Rainbow Room im Rockefeller Center hoch über der Stadt, ein sportlich gekleideter Mann in einem typischen Diner („Doug im Diner“) oder die atemberaubende Skyline von Manhattan, auf unzähligen Fotos reproduziert, wiedererkennbar, und doch in der malerischen Annäherung ganz neu interpretiert. Grellfarbige Einsprengsel, dynamische Pinselstriche und ein schneller, gestischer Farbauftrag sorgen für eine Lebendigkeit und Kraft, die bestätigen: Die Verve und die Fiebrigkeit der nie schlafenden Stadt hat sich auf Charlotte Eschenlohr übertragen und auf ihren Bildern Gestalt angenommen.

Zurück auf den alten Kontinent. Kurze Zeit später entstand die Serie der Salzburg-Bilder, und wie sollte es anders sein, natürlich wieder direkt vor Ort. Hier dominiert eine Flächigkeit und Gewagtheit in der Farbkombination. In die Motivik kehrt Ruhe ein, die Protagonisten der Gemälde gewinnen an Erdigkeit. Österreichische Geruhsamkeit statt New York City Vibrations? In der neben den Gemälden entstehenden losen Zeichen- und Skizzenfolge manifestiert sich eine pointierte Schärfe an detaillierter Ausdrucksfreude und genauer Beobachtungsgabe.

Die bekannten Modelle begegnen uns hier wieder und erscheinen mit mal angedeuteten, mal überspitzten Charaktermerkmalen. Der Brief, den der Maler Max Beckmann einst an eine Malerin schrieb, um sie auf ihrem Weg zu stärken, enthielt auch die folgenden Zeilen, die sich auf Charlotte Eschenlohr perfekt anwenden lassen: „Lassen Sie andere, verwirrt und farbenblind, in Geometriebüchern oder in Problemen höherer Mathematik umherstreichen. Wir wollen uns der Formen erfreuen, die uns gegeben sind: eines menschlichen Gesichts, einer Hand, einer Frauenbrust oder eines Männerkörpers, eines frohen oder traurigen Ausdruckes, der unendlichen Meere, der wilden Felsen, der melancholischen Sprache schwarzer Bäume im Schnee, der wilden Kraft der Frühlingsblumen und der schweren Lethargie eines heißen Sommertages, wenn Pan, unser alter Freund, schläft und die Geister der Höhe des Tages wispern. Das allein genügt, um uns den Kummer der Welt vergessen zu machen, oder ihm Gestalt zu geben.“

Die Figur, die Stadt, die Farbe – diese drei Merkmale sind die Grundfesten in den Gemälden Charlotte Eschenlohrs. „Wenn sich der Künstler seinem Gefühl überlässt, so meldet sich etwas Farbiges gleich. Sobald das Schwarze ins Bläuliche fällt, entsteht eine Forderung des Gelben, das denn der Künstler instinktmäßig verteilt und teils rein in den Lichtern, teils gerötet und beschmutzt als Braun in den Reflexen, zu Belebung des Ganzen, anbringt, wie es ihm am rätlichsten zu sein scheint“, heißt es schon 1810 in Johann Wolfgang von Goethes „Texten zur Farbenlehre“. Auch Charlotte Eschenlohr setzt der physikalischen Begrenztheit der tatsächlich gesehenen Farben ihr ganz eigenes, ungemein vielfältigeres Farb- und Empfindungsspektrum entgegen. Die Emotionalität der Figuren spiegelt sich in ihren Gemälden ebenso wider wie die unmittelbare Einbettung in ihre Umgebung. Der Melting Pot New York ist mehr als Kulisse, New York ist das Thema der Bilder und – nicht zu vergessen – der Ort ihrer Entstehung. Hinter das Kapitel New York ist vorerst ein Punkt gesetzt. Ob es eine unwiederholbare Episode bleibt oder sich zu einem Fortsetzungsroman ausweitet, bleibt abzuwarten. Das Potenzial jedenfalls ist da. Zu einem Land der unbegrenzten Möglichkeiten sollte man niemals nie sagen.

Nicole Büsing & Heiko Klaas, 2005