West-östlicher Divan

Nicole Büsing & Heiko Klaas: Das Interesse für Kunst wird ja meist schon im Elternhaus, in der Familie oder Schule geweckt. Welche frühen Einflüsse waren es, die da bei Dir eine Rolle gespielt haben? Wir denken da an Kunstwerke bei Euch zu Hause, wichtige Ausstellungsbesuche, Lektüre, Gespräche usw.

Charlotte Eschenlohr: Die frühen Einflüsse gehen sicherlich auf die chinesische Ausstattung und Kunst in Eltern- und Großelternhaus zurück. Mein Vater und die Großeltern lebten einige Jahre im alten China. Die mitgebrachten Möbel und Kunstgegenstände haben eine sehr ungewöhnliche Umgebung geschaffen. Chinesisch war sonst niemand eingerichtet.

Mit 13 erlebte ich meine erste eigenständige kleine Reise und besuchte meine Tante in Basel. Ich bin ganz allein in die Kunsthalle gegangen und erlebte dort eine Installation im Dunkeln, die meine Herztöne hörbar machte. Das war eine sehr aufregende Erfahrung und zugleich symbolisch. Noch immer lässt interessante moderne Kunst mein Herz höher schlagen. Picasso war sicher auch ein wichtiges Thema, da mein Vater sich sehr für seine Malerei interessierte.

NB & HK: Heute bist Du selbst als Künstlerin tätig. Doch ehe wir auf dieses Thema genauer eingehen wollen, würden wir gern von Dir wissen, welche Rolle die Beschäftigung mit Kunst während Deines betriebswirtschaftlichen Studiums in Berlin gespielt hat. Sicher gab es auch da spannende Begegnungen mit Künstlern und prägende Ausstellungsbesuche. Die Berliner Kunstszene der 80er Jahre ist Dir ja durchaus vertraut. Wie empfindest Du diese Zeit in der Rückschau?

CE: In Berlin habe ich heftigst studiert und nebenbei in einem Kindertheater das finanzielle Management gemacht. Auch die ersten Jahre der Berufstätigkeit bei der Deutschen Treuhand waren zeitlich absorbierend, und es blieb wenig „space“ außerhalb beruflicher Themen. Kunst war zu dieser Zeit eher ein Hintergrundgeräusch.

Natürlich habe ich die Neuen Wilden mitgekriegt und war sehr von deren Lebendigkeit, Buntheit und Direktheit im Stil beeindruckt. Die expressionistische Malerei war immer mein Favorit, und diese neue Malerei wirkte wie eine Wiederaufstehung in ganz frechem neuen Gewand. Es war auch ein interessanter Lebensausdruck, der wild und frei wirkte wie die Malerei selbst. Ich habe das in den einschlägigen Lokalen wie Exil und Paris Bar ganz gut aus der Nähe mitbekommen. Die Kunstszene war damals im Vergleich zu heute noch klein. Alles spielte sich an wenigen Orten ab. Wiener Künstler hatten diese erwähnten Lokale gegründet und schufen eine interessante Mischung aus Kunst und Leben mit guter Küche, in die ich mit großem Vergnügen eintauchte.

Zu dieser Zeit habe ich schon ab und an Bilder und Zeichnungen gekauft. Meist in Charlottenburger Gallerien, wo ich auch wohnte. Gut in Erinnerung habe ich noch die Metropolis-Ausstellung. Das war eine ganz neue Erfahrung Kunst zu erleben: spielerisch, witzig, frech, fast wie ein Abenteuerspielplatz für Erwachsene.

NB & HK: Von der passiven Beschäftigung mit Kunst als Ausstellungsbesucherin und gelegentlich auch als Sammlerin hin zur aktiven Produzentin von Kunstwerken ist es ein entscheidender, alles verändernder Schritt. Durch welche Impulse bist Du selbst zur Künstlerin geworden? In welchen Medien hast Du anfangs gearbeitet?

CE: Wichtig war sicherlich meine Rolle als Gastgeberin. Ich habe Einladungen mit einer befreundeten Eat-Art-Künstlerin konzipiert. Aus diesen Einladungen resultierten Tafelbilder und Objekte. Zum Teil habe ich auch direkt Objekte für die Einladungen konzipiert und herstellen lassen wie zum Beispiel "Mit 50 wird geleuchtet": ein Objekt aus beleuchteten Straußeneiern, das sich durch Spiegelung in einen unendlichen Raum ausdehnt. Diese Einladungen und die daraus resultierenden Objekte, Zeichnungen und Tafelbilder haben viel Anklang gefunden, so dass ich zunehmend neugieriger wurde, mein künstlerisches Potenzial auszuloten. Ich wollte es nun wissen.

Mein erster öffentlicher Auftritt mit der Performance "Living Table" fand im Rahmen der Abschlussausstellung der internationalen Sommerakademie Salzburg statt und fand großen Anklang. Es war eigentlich eine organische Entwicklung, hin von der Gastgeberin im privaten Bereich zu einer Eat Art-Performance, die sich an die Öffentlichkeit richtet. Danach arbeitete ich viel skulptural mit Stein und Bronze. Es war eine meditative Zeit des Versunkenseins in das Material, des langsamen Behauens der Steine. Eine Arbeit, die stark erdet und den Prozess des "Umprogrammierens" vom früheren Beruf der Kauffrau zur Künstlerin sehr begünstigte. Nun wollte ich mit leichtem Material arbeiten. Ein Seminar bei Donald Baechler gab mir den entscheidenden Impuls. Von da an stand die Malerei im Mittelpunkt meines Interesses. So konnte ich mit leichtem Gepäck, sprich: Pinsel und Leinwand, mein "Atelier auf Zeit" in New York beginnen.

NB & HK: Was reizt Dich an der Verlagerung Deines Ateliers in andere Städte? Immer wieder New York, dazwischen Berlin und zuletzt Rom. Wie näherst Du Dich diesen Städten? Wie transferierst Du die unterschiedlichen Energien dieser Städte in Dein Werk?

CE: Der Reiz des Ateliers auf Zeit, vor allem in New York, aber auch in Rom und Berlin, liegt in der Ferne, in der Fremdheit, im Herausschlüpfen aus den gewohnten Strukturen. Man könnte dies mit dem Begriff „Out of space“ beschreiben: wie ein neuer imaginärer Raum, der durch die Malerei real wird, und Ferne und Nähe miteinander verbindet. Die unterschiedlichen Energien dieser Städte verändern die Wahrnehmung und dienen als Basis kreativer Impulse, die dieser Transformation dienen.

Die Annäherung an die fremden Orte geschieht unmittelbar. Mein Medium ist zunächst die Kamera. Ich mache hunderte von Fotos, aus denen ich malerische Motive entwickle. Zum Teil verwende ich diese Fotos auch direkt. So ist zum Beispiel die letzte Serie "NY Patterns" auf Digitalprints gemalt, die wiederum auf seriellen Fotos aus New York basieren. Unmittelbar ist meine Arbeit auch deshalb, weil ich immer intensiv mit einem Künstler plus einem oder auch mehreren Modellen vor Ort arbeite. Dadurch entsteht in kurzer Zeit ein sehr intensiver und lebendiger Austausch. Die Motive Stadt und Mensch verbinden sich auf diese Weise ganz leicht. Fast spielerisch verlassen sie die Sphäre der reinen Abbildung und leben.

NB & HK: Durch den direkten Kontakt mit vor Ort lebenden Künstlern oder Modellen erhälst Du also einen viel direkteren Zugang zur jeweiligen Stadt und der dortigen Kunst-Community. Wie nähert Ihr Euch gemeinsam den jeweiligen Gegebenheiten? Welche Aktivitäten außerhalb des Ateliers gibt es? Welche Orte besucht ihr? Und wie ist es mit den Modellen? Wir vermuten, es kommt Dir darauf an, dass auch sie über das „gewisse Etwas“ verfügen müssen?

CE: Bei dieser Annäherung geht es vor allem darum, die Position des Fremdseins und die Beobachtung aus der Distanz in ein Eintauchen in die jeweilige Stadt und die dortige Community zu verwandeln. Aufgrund der temporären Situation ist dieser Prozess sehr konzentriert und nur mit einer Person vor Ort, die mich künstlerisch und arbeitsorganisatorisch begleitet, so durchführbar. Es ist wie eine Essenz, die es zu gewinnen gilt, die sich im Dialog mit einer Künstlerin oder einem Künstler der jeweiligen Stadt schrittweise herausfiltert und natürlich auch im Kontext mit der eigenen Position und Befindlichkeit steht.

Dieses Eintauchen gestaltet sich sehr lebendig durch die Kontakte zu anderen Künstlern, Besuchen in deren Ateliers, Ausstellungsbesuchen, das Erkunden der Stadt und vor allem durch die Arbeit mit einem oder mehreren meist weiblichen Modellen. Die Modelle stelle ich direkt in die jeweilige Szenerie, sei es die Terrasse meines Brooklyner Ateliers mit der Skyline von Manhattan im Hintergrund oder in die Kulisse eines römischen Parks. Immer bewege ich mich dabei zwischen beiden Medien: dem der Fotografie und dem der Zeichnung. Dabei wechsle ich zwischen den unterschiedlichen Tempi der schnellen Kamera und dem langsameren, eher kontemplativen Zeichnen. Die Wahl hängt auch vom Sujet ab. So lässt sich eine Aktdarstellung nicht leicht in der Großstadtszenerie realisieren. Dafür ist meist nur ein schneller Fotoshot machbar. Das differenzierte Erkunden des physischen und psychischen Ausdrucks geschieht dann im Atelier. Das Gemälde setzt sich mit Hilfe beider Medien zusammen. Spontaner Ausdruck und Reflexion fließen zusammen, und der lebendige Ausdruck bleibt erhalten.

NB & HK: Blickt man zurück in die Kunstgeschichte, so findet man immer wieder Maler, die mit den unterschiedlichsten Aktmodellen in großstädtischen Milieus arbeiten. Henri Toulouse-Lautrec besuchte die Amüsierviertel Montmartres. Pablo Picasso setzte seine jeweiligen Favoritinnen vor verschiedenen Hintergründen in Szene. Die Beziehung männlicher Maler - weibliches Modell ist sicherlich häufig komplex, ambivalent und spannungsgeladen, für den Betrachter jedoch mit etwas Fantasie durchaus entschlüsselbar. Warum bevorzugst Du gerade als weibliche Malerin die Auseinandersetzung mit weiblichen Aktmodellen?

CE: Weil ich eine Frau bin. Weil ich einen weiblichen Blick auf das Bild der Frau werfen will. Das gängige Frauenbild ist traditionell von der männlichen Perspektive geprägt und verharrt dabei oft im Objekthaften. Diese Frau zeigt sich nicht, sie verschwindet hinter Klischees und Rollenspielen. In diesem Sinne ist sie niemals nackt.

Meine Frauen sind anders nackt. Die Herangehensweise ist dabei weder theoretisch noch konzeptuell bestimmt, sondern rein sinnlich, sowohl aus der Situation wie aus dem Unbewussten schöpfend. Es ist ein Fest, eine große Freude, eroberte Freiheit, Selbstbestimmtheit und vor allem Klarheit. Meine Frauen sind farbig und expressiv. Sie verbergen sich nicht und gewinnen daraus ihre Kraft. Dabei ist die Auseinandersetzung mit dem Modell immer eine Balance. Das Erspüren individueller Charakteristika und die Beobachtung unterschiedlicher kultureller und nationaler Hintergründe mischen sich in meiner Malerei mit einer Selbstreflexion über die eigene physische und psychische Situation. Auf diese Weise wird das Bild der Frau zum Bild einer Frau.

NB & HK: Nach Deinen Exkursionen und malerischen Selbsterforschungen in Europa und den USA planst Du jetzt einen längeren Atelieraufenthalt in China. Mit welchen Erwartungen und Zielen trittst Du den spannenden Weg in den asiatischen Kunst- und Kulturkontext an?

CE: Tatsächlich beginnt jetzt ein ganz neuer Abschnitt in meinem künstlerischen Leben, auf den ich mit großer Spannung und Freude zugehe. Ich habe Asien auf vielen Reisen erlebt. So habe ich ganz Südostasien - mit Ausnahme von Laos - und auch China bereist. Dennoch war es immer eine Außensicht, da ich bis dato keine Möglichkeit gesehen habe, dort künstlerisch zu arbeiten.

Nun ist diese Chance da, und ich verlasse zum ersten Mal den westlichen Kontext und schlage mein Atelier auf Zeit in Peking auf. Dieses Arbeitskonzept war in der westlichen Welt mit der guten Unterstützung von Freunden aus der Kunstszene immer ganz gut selbständig organisierbar. Für China hatte ich bis vor kurzem keinen Ansatzpunkt, ein solches Projekt durchführen zu können. Durch den Kontakt zu einem bekannten Berliner Galeristen, der auch in Peking eine Galerie führt, tut sich nun diese neue Chance auf, und ich kann direkt vor Ort arbeiten.

Im Gepäck habe ich die chinesischen Briefe meines Großvaters, überhaupt meinen familiären Hintergrund, der stark von der alten chinesischen Kultur geprägt ist. Umgeben von Kunstgegenständen aus dem China der Kaiserzeit in meinem Zuhause in München, gehe ich auf die Reise. Ich tauche ein in das neue China, in die Aufbruchstimmung der noch sehr jungen modernen Kunst, in die Dynamik und Freude, die von den chinesischen Künstlern ausgeht, nun auch mitten drin zu sein in der Moderne, in der neuen Kunst. Diese Begeisterung beschreibt sehr schön der Titel einer aktuellen Ausstellung moderner chinesischer Kunst hier in Deutschland: "All The Great Modern Things - Chinese Pop".

Das ist mein Elixier. Und nun kommt es auf die Mischung an.